Dienstag, 25. März 2014

Wie ich zu einer Helikoptermama wurde


Ich wollte nie eine Helikoptermama sein. Greta sollte frei sein. Das Kind sollte klettern, laufen, Sand essen und mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen. Und ich wollte mich nur dann einmischen, wenn wirklich etwas schief lief.
"Die Kinder probieren nur, was sie auch wirklich können", sagte Anna.
Anna war die Leiterin einer Kinderkrippe, die sich in ihrem Erziehungskonzept sehr an Emmi Pikler orientierte. "Man muss sie möglichst selbstständig ihre Erfahrungen machen lassen", fügte sie hinzu. "Gut", dachte ich,"die Einstellung gefällt mir." Außerdem war die Krippe toll und Anna erfahren. Anmeldebogen ausgefüllt. Krippenplatz bekommen. Kind liebevoll eingewöhnt. Das Kind fühlte sich wohl. Lachte viel. Lernte viel. Alles gut.
Im Sommer, zwei Wochen nach Gretas Krippenstart, kam der erste Anruf aus der Kinderkrippe: "Dein Kind ist von der Treppe gefallen. Es war nicht hoch. Aber, ....kannst du mal vorbeikommen?" Ich kam vorbei und fand meine Tochter friedlich schlafend in ihrem Bettchen vor. Um sicherzugehen und das Kind besser beobachten zu können, weckte ich sie auf und nahm sie mit nach Hause. Kind beobachtet. Kein Erbrechen. Alles gut.
Im Herbst, zwei Monate nach Gretas Krippenstart, kam der nächste Anruf aus der Kinderkrippe:"Dein Kind hat ein Loch im Kopf. Kannst du mal kommen? Wir haben schon die Rettung verständigt."
Die Rettung verständigt. Ein Loch im Kopf. Panik. Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass mein Bruder Marc auch einmal ein Loch im Kopf gehabt hatte. Dass meine Mutter immer davon erzählt hatte. Und dass alles gut gegangen war. Also ruhig bleiben. Keine Panik. Auto holen. Schlimme Befürchtungen verdrängen. Zum Kind. Schnell. Am Spielplatz angekommen, wo die Kinderkrippenkinder gespielt hatten, bevor Greta sich verletzt hatte, bot sich ein für mich schreckliches Bild.
Mein kleines Mädchen, heulend, blutüberströmt in den Armen einer völlig verschreckten Erzieherin. Ich nahm Greta auf den Arm und fragte, was passiert sei. "Sie ist gegen einen Stein gefallen", sagte Heidi, ihre Erzieherin. "Ach, das hätte auch bei uns passieren können", sagte ich, um die Erzieherin zu beruhigen und wartete auf die Rettung.
Greta lief das Blut von der Stirn ins linke Auge. In ihrer Stirn klaffte ein großes Loch. Ein großes Loch, aus dem mehr und mehr Blut rann.
"Hoffentlich ist es nicht schlimm. Hoffentlich ist das Loch nicht tief. Hoffentlich ist nichts am Auge", dachte ich. Zu meiner weinenden Tochter sagte ich nur: "Die Mama ist da. Alles wird gut."
Dann kamen die Sanitäter. "Ist das was Schlimmes? Wird das bleibende Folgen haben", fragte ich. "Wahrscheinlich nicht. Sieht nach einer Platzwunde aus", war die Antwort. Kind ins Krankenhaus gebracht. Kleine Spritze. Loch genäht. Nix gemerkt. Alles gut.
Eine Woche später Kind zu Hause auf den Hochstuhl geklettert. Heruntergefallen. Erbrechen. Krankenhaus. Untersuchung. Gehirnerschütterung. Kind beobachtet. Alles gut.
Und nochmal ein paar Wochen später: Kind vom Sofa gefallen. Wieder Erbrechen. Wieder Krankenhaus. Wieder Gehirnerschütterung. Kind beobachtet. Nix gemerkt. Alles gut.

Ein paar Monat später- der nächste Anruf aus der Kinderkrippe: "Dein Kind hat eine Kastanie gegessen. Kannst du mal beim Giftnotruf anrufen?"
Giftnotruf angerufen.
 "Wie alt ist das Kind?", fragte der Mann vom Giftnotruf.
"18 Monate", antwortete ich.
"Hat es die Kastanie ganz gegessen oder nur davon abgebissen?", fragte der Mann vom Giftnotruf.
"Das weiß ich nicht", antwortete ich, "Es war doch in der Kinderkrippe."
"Dann fragen sie es doch", sagte der Mann vom Giftnotruf.
"Greta, hast du die Kastanie ganz gegessen?", fragte ich meine Tochter. Diese sah mich mit großen Augen an.
"Sie ist 18 Monate alt", sagte ich dem Mann vom Giftnotruf. "Da bekommt man keine verlässlichen Antworten."
 Der Mann vom Giftnotruf wollte wissen, ob es eine frische Kastanie gewesen sei. Es war Mai.
 "Nein, sicher keine frische Kastanie", antwortete ich. Heimlich fragte ich mich, ob der Mann vom Giftnotruf wohl einen festen Fragenkatalog abarbeitete oder wirklich über den Fall nachdachte.
Schließlich, als der Mann alle Fragen gestellt hatte, sagte er, dass es wahrscheinlich nicht schlimm sei und dass die Kastanie auf natürlichem Weg wieder ans Tageslicht kommen würde.
Nach dem Telefonat fragte ich Greta noch einmal ganz ruhig nach der Kastanie.
"Lea. Kastanie esst", sagt Greta. Lea war ihre beste Freundin aus der Krippe. Ich rief also nochmal in der Krippe an und fragte nach. "Nein. Das war Greta. Definitiv!", sagte die Erzieherin. "Dein Kind macht die verrücktesten Sachen. Wir hatten hier noch nie ein Kind, das eine Kastanie gegessen hat!" Ich glaubte ihr. Die Krippe war gut und Greta machte wirklich verrückte Sachen.
Die Kastanie tauchte wieder auf. Drei Tage später. Und es war Greta gewesen, die die Kastanie gegessen hatte. Definitiv.
Ich wurde zur Helikoptermama. Es half nichts. Greta tat leider nicht nur, was sie schon konnte. Sie kletterte auf dem Spielplatz auf das höchste Gerüst und kam dann nicht mehr herunter.



Sie lief manchmal davon, um einen Hund oder eine Taube zu verfolgen. Oder sie wollte einfach nur mal zum Brunnen gehen, wie sie mir sagte: "Greta. Brunnen. Geht."
Das Kind schien keine Angst zu haben. Und ich wollte nicht alle zwei Wochen mit meinem Kind ins  Krankenhaus fahren. Noch ein paar Unfälle und wir würden dort persönlich begrüßt.
Also lief Greta. So schnell sie konnte. Und ich hinterher. Dem Hund nach. Der Taube nach. Zum Brunnen. Also steckte sie sich alle möglichen Dinge in den Mund. Und ich zog alles Mögliche noch einmal heraus, um nachzusehen, ob es genießbar war.
Sie ist noch immer sehr mutig, meine Große. Zum Glück aber mit der Zeit - und den Verletzungen - ein bisschen vernünftiger geworden. Sie liebt Geschwindigkeit und Höhe. "Mama, schneller!", ruft sie von hinten auf dem Fahrradsitz. "Mama höher!", auf der Schaukel. "Bis zur Sonne und bis zum Mond und zu den Sternen!"
Auf dem Laufrad ist sie oft zu schnell. Und ich muss es ihr machnmal wegnehmen, weil sie nicht anhält, wenn ich "Stopp!" rufe. 
Aber immerhin versteht sie jetzt mehr. Wir haben heute geübt. Straßen überqueren. Mit dem Laufrad. "Schau links, schau rechts, schau geradeaus. Dann kommst du sicher gut nach Haus." Greta liebt den Spruch. Und es scheint zu wirken.
Fahrradfahren darf sie trotzdem vorerst nur bei der Oma. Auf dem Land.