Dienstag, 20. Mai 2014

Integrative Kinderkrippe


Als wir noch in N. wohnten, ging Greta in eine integrative Kinderkrippe. Was das genau heißt, wurde mir erst richtig klar, als plötzlich ein neues Mädchen in der Krippe war, das anfangs sehr viel weinte.
Lena war genauso alt wie meine Tochter, konnte aber noch nicht krabbeln und laufen und lag erst einmal nur auf dem Boden herum. Morgens, wenn ich Greta in die Krippe brachte, fiel mir auf, dass Lena wahnsinnig lange nach ihrer Mama weinte. Anna, die Krippenleiterin, hielt Lena immer in ihren Armen und tröstete sie, wobei es ein bisschen so wirkte, als ließe sich das kleine Mädchen gar nicht trösten.
Greta sagte immer nur: "Lena weint, Mama." Das sagte Greta wochenlang. Jeden Nachmittag.
Besorgt rief ich meine Cousine an. Sie ist Förderschullehrerin.
"Ist das nicht schlimm für das kleine Mädchen? Sie weint immer. Und sie kann sich gar nicht bewegen wie die anderen Kinder. Sie liegt nur auf dem Boden. Und was ist mit den anderen Kindern? Nimmt sie das nicht zu sehr mit, wenn da ein Mädchen immer weint?"
Meine Cousine beruhigte mich und meinte, ich solle froh sein, dass meine Krippe Platz für so ein Mädchen habe.
Anna schien jedenfalls alles im Griff zu haben. Sie hielt die kleine Lena, während diese weinte, in ihren Armen. Wochenlang. Jeden Morgen. Platz hatte sie. In ihrer Krippe und in ihrem Herzen.
Und irgendwann weinte Lena nicht mehr. Irgendwann konnte sie kriechen und dann auch sitzen. Dauerte eben alles ein bisschen länger als bei anderen Kindern. Und meine Tochter hatte Lena sehr gern. Sie erzählte viel von ihr.
Über das Thema "Besondere Kinder" habe ich mit Greta nicht gesprochen. Sie nahm die kleine Lena als ein ganz normales Mädchen wahr. Eines, das anfangs sehr viel geweint hatte.
Ich wollte, dass das so blieb. Lena sollte für Greta nicht das "besondere" Mädchen sein, sondern ein Kind wie alle anderen. Sie brauchte ein bisschen länger für manche Dinge. Aber das nahm Greta gar nicht wahr, schließlich hatte sie ja keinen Entwicklungsplan in ihrem Kopf.
Lenas Eltern waren sehr offen. Trotzdem fiel es mir anfangs schwer, auf sie zuzugehen. Immer war da dieses Gefühl. Ein Gefühl von schrecklicher Ungerechtigkeit. Was dachten sie, wenn sie sahen, dass meine Tochter, gleich alt wie ihre, so schnelle Fortschritte machte? Laufen lernte. Sprach. Kletterte. Auf einem Bein hüpfte.
Am Krippensommerfest standen die Eltern in kleinen Grüppchen im Garten herum und sprachen über die Kinder. Lenas Eltern aber hielten sich ein bisschen abseits. Sie standen am Zaun. Alleine.
Da endlich, bin ich auf Lenas Mama zugegangen und habe ihr gesagt, dass ich nicht recht wüsste, wie ich sie ansprechen sollte. Dass es sich ungerecht anfühlen würde, wenn man selbst ein gesundes Kind habe.
Und Lenas Mama. Die lächelte. Und dann sagte sie, sie sei einfach froh, wenn jemand ganz normal auf sie zuginge. Sie habe sich das alles nicht ausgesucht, aber sie wurschtle sich so durch. Manchmal fühle sie sich hilflos und überfordert, aber manchmal auch sehr glücklich über ihre kleine Tochter, dass sie überlebt habe, obwohl sie viel zu früh geboren wurde. Dass sie trotzdem da sei. Und Fortschritte mache.
Ich sprach mit ihr auch über den Wunsch nach einem zweiten Kind.
Im Moment, sagte sie, könne sie sich das kaum vorstellen. Sie habe zuviel Angst, wieder eine komplizierte Frühgeburt zu haben. Angst, noch ein "besonderes Kind" zu bekommen. Dass sie ihren Kindern dann nicht mehr gerecht werden könne.
Das zweite Kind. Die zweite Schwangerschaft.
Vor Lillis Geburt habe ich auch Angst vor einer Frühgeburt gehabt. In der 24. Schwangerschaftswoche hatte mir eine Frauenärztin gesagt, sie glaube, das Baby bleibe nicht mehr sehr lange in meinem Bauch. Und da habe ich viel an Lenas Mama gedacht. An ihre Offenheit. Ihre Fröhlichkeit. Ihre Kraft.
Lilli kam dann doch nicht zu früh. Sie wurde kerngesund in der 41. Schwangerschaftswoche geboren. Ein Geschenk.
Wir trafen uns wieder, Lenas Mama und ich. Am Tag der offenen Tür der Kinderkrippe in N. Lena hatte ganz offensichtlich tolle Fortschritte gemacht, konnte laufen und besuchte mit großer Freude einen integrativen Kindergarten. Wir waren mittlerweile nach R. gezogen und hatten Lilli bekommen.
Es war schön Lena wieder zu sehen. Schön ihre Mama zu sehen, die mittlerweile wieder berufstätig ist.
Und ich erzählte Lenas Mama vom Umzug, von unserem Leben in R. und von meinen Ängsten während der zweiten Schwangerschaft. Und ich sagte ihr, dass sie mein inneres Vorbild in der Schwangerschaft gewesen war....
Ein Bild, das ich vor Augen hatte.....
Für den Fall, dass Lilli nicht ganz gesund geboren würde,.... da wollte ich nämlich so fröhlich und offen und mutig und tapfer sein wie sie.  So oft hatte ich an sie gedacht. Und an Lena.

Es war gut, dass Lena mit Greta in die Kinderkrippe gegangen ist. Gut für Lena, die sich von den anderen Kindern viel abschaute und gut für Greta, die lernte, mit Kindern umzugehen, die etwas länger brauchen als andere.
Es war gut für mich, weil ich Lena und ihre Eltern kennen lernen durfte und so auch eigene Berührungsängste abbauen lernte.
Und es war gut, dass Lenas Mama auch mal an sich dachte, wieder anfing zu arbeiten und ihre Fröhlichkeit bewahren konnte, obwohl das bestimmt nicht immer einfach für sie war.

Nachdem ich ihr das alles erzählt hatte, fragte ich Lenas Mama, ob sie sich mittlerweile vorstellen könne, ein zweites Kind zu haben.

"Ja", sagte sie und lächelte.
"Jetzt kann ich mir ein zweites Kind schon vorstellen."

Da habe ich sie in den Arm genommen und ganz fest gedrückt.